Der HRT- Beginn
Es gab damals, 2009, noch die Regel, dass man erst einmal 2 Jahre beim Psychologen absitzen musste, bis man als „reif” für die HRT geadelt werden durfte und eine „Audienz“ beim Endokrinologen gewährt wurde. Die 2-Jahresregel ging auf ein verstaubtes Urteil des Luzerner Bundesgerichts zurück.
Das erste Gespräch mit dem Endo
Ich hatte das Gefühl, vorgeladen worden zu sein. Aber mein Gegenüber war wohl nervöser als ich selbst. Er wirkte ziemlich verlegen, sehr verkrampft. Vertrauen: Eher zwei Katzen, die extrem vorsichtig umeinander herumschlichen.
Das Erstgespräch war mit einer Untersuchung verbunden. Ich musste mich komplett ausziehen. Alles. Silikonbrüste abschnallen. Mich aus der Strumpfhose rauspellen. Dann wurde es noch peinlicher, das verschämte, wortlos verstohlene Abtasten der Hoden erfolgte im Winnetou-Stil, also mit „vielsagendem“, absolutem Schweigen. Ich fragte den großen Schweiger: „Und? Haben Sie was gefunden?” – Keine Antwort. Zweiter Anlauf von mir: „Was untersuchen Sie da?” – Jetzt kam die Antwort: „Die Grösse”. Ich dachte mir noch, mein Automechaniker sprudelt ja im Vergleich zu ihm munter drauf los, wenn er unter die Motorhaube schaut. Dritter Anlauf meinerseits: „Und was ist mit der Größe?” Antwort: „Normal”. Er deutete verschämt auf zwei Plastikhoden an zwei Bindfäden, die auf dem Schreibtisch lagen. „So in etwa wie die da. Damit man später einen Vergleich hat.“ – „Vergleich?” – „Ja, Größe“.
Eine klassische Audienz: Wenig Infos, null Diskussion, Ehrerbietung
Eine Diskussion „mit Winnetou“ über klinische Endpunkte, Outcomes, sprich: zu erzielende/erwartende Therapieeffekte, fand nicht statt. Verschämt, nahezu verstohlen, wurde mir ein DIN-A4-Blatt in die Hand gedrückt, mit Informationen zu Einnahme, Wirkungen und Nebenwirkungen von „weiblichen Geschlechtshormonen generell“. Aber die stumme Zettelübergabe erfolgte erst, nachdem ich Näheres zu den Nebenwirkungen wissen wollte. Weitere Informationen wurden nicht gegeben. Da ich damals von Evidenzbasierter Medizin noch keine Ahnung hatte, habe ich ihn auch nicht mit Fragen zu Outcomes (d.h. zu erwartenden, wissenschaftlich abgesicherten Behandlungserfolgen bzw. Behandlungsergebnissen) gelöchert.
Keine Wahl – „Des isch so!”
Er berief sich auf seine „Erfahrung“ und verordne seine „Standardtherapie“, mit der er – O-Ton – „sehr gute Erfahrungen“ gemacht hätte. Meine (etwas ironische) Frage, wie lange er denn Androcur eingenommen habe und in welcher Dosierung, rief Stirnrunzeln hervor. Meine Frage, ob seine „Standardtherapie“ denn wissenschaftlich belegt sei, wurde mit Lächeln quittiert: nein, ihm reiche seine klinische Erfahrung. Er zückte den Rezeptblock und verordnete einfach. Punkt.
Zu den Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie bitte die Packungsbeilage
Nur auf dem Zettel, den er mir überreicht hatte, standen ein paar Nebenwirkungen „der Hormontherapie generell“. Androcur-Nebenwirkungen wurden mit keiner Silbe erwähnt. Im Grunde genommen schien die Einnahme easy, wie ein Spaziergang. Ich habe später die Beipacktexte überflogen, aber dachte: na ja, erstaunlich, was da alles so vorkommen kann, aber wird schon schief gehen.
Und es ging schief.
Androcur at first
Er startete mit Androcur 25mg. Das gab es solo 12 Wochen, dann noch Estradot-Pflaster zusätzlich zweimal die Woche. Wie gesagt, wozu und warum, dazu gab es keine Infos. Später bei einem anderen Endo erhielt ich dann Progesteron Kapseln, Utrogestan 200 – 14 Tagesintervall.
Vor der HRT – Riesenleidensdruck
Die Daueranspannung wegen der geschlechtlichen Heimatlosigkeit im Körper ab Beginn der Pubertät war prägend. Dieses ständige Ertragen, dass es ein geschlechtlicher Zwiespalt ist. Ein diffuses und seltsames Dahinvegetieren und sein geschlechtliches Dasein fristen. Diese Riesenkluft und Schranke, die den Geschlechtskörper mir versperrt. Ein geschlechtlicher Hemmschuh. Seit der Pubertät habe ich Geschlecht und Geschlechtskörper als meinen Schwachpunkt angesehen, etwas, was ich tunlichst vermeide, was mich befangen macht. Vor allem meinen Geschlechtskörper erlebte ich mit Befangenheit, schlimmen negativen Gefühlen, obwohl bei der Sexualität die Partnerinnen mich diesbezüglich als sehr „unbefangenen, sehr eindrücklichen und nachhaltigen Lustspender“ erlebten. Ich hingegen erlebte nur sexuelles Elend. Vor allem nach Sex. Das erlebte ich völlig anders, als MICH andere erlebten. Lichte, schöne Momente gab es nur bei Phantombrustwahrnehmungen, beim Sex unter Frauen und beim Leben in der weiblichen Rolle. Geschlecht war für mich Belastung, Herzweh, Herzeleid, Gram und Misere. Irgendwie trist, etwas mit Trauer, aber anders als Depression. Etwas Hinzunehmendes, ohne es bewältigen zu können. Wenn ich Frauen oder Mädchen erlebte, spürte ich manchmal einen Stich, auch eine Wunde.
Bereits vor der Hormontherapie habe ich eine starke Sehnsucht nach Hormonen gespürt. Ich habe mir ausgemalt, wie die Brüste anfangen zu wachsen, die Haut schön glatt und weich würde, die Haare weniger, ein weiches Gesicht, sanftere Emotionen, innere Harmonie, Freude an der Lust und sexuelle Befriedigung. Also kurz gesagt: „paradise on earth“.
HRT – wesentlich mehr als ein Trostpflaster
Ja, letztlich gab es die bedeutsame Erleichterung. Zunächst aber hatte ich unter Androcur eine schlimme Zeit.
Nach Absetzen des Androcur ging es aufwärts. Die Anspannung verschwand, in mir machte sich eine angenehme Wohligkeit und Lebenslust breit. Ich wurde hellwach und quicklebendig. Ich begann sehr weich und gefühlvoll zu werden. Die Sexualität erwachte, veränderte sich, wurde sanfter, weniger abrupt. Vor allem die Konzentrationsfähigkeit besserte sich. Die Phantombrüste kamen lustvoll in den Fokus.
Mein Körper erwacht
Das Verhältnis zum Körper begann sich zu beleben, er wurde stimmiger, die Brüste nahmen an Volumen zu, das Gesicht wurde weicher, das Schwitzen wurde seltener und weniger. Der gesamte Leib wachte auf, wurde durch und durch warm und weich.
Rosamunde Pilcher, Inga Lindström & Co
Mein Emotionsspektrum wurde weiter und nuancierter. Eine Art Dauerhoch begann, das bis heute anhält. Ich war allerdings auch viel mehr am Wasser gebaut, spontan flossen auch mal Tränen vor Rührung. Ich begann Romance-TV zu schauen, besonders die tränenreichen Schnulzen hatten es mir angetan. Die Liebe zu meiner Frau ist wieder im „Schmetterlinge im Bauch“-Modus. Lust und Orgasmus wurden wichtig.
Als Androcur-Zombie
Zunächst gab es ja 6 Wochen Androcur pur. Das war ein Schock. Zunächst überfielen mich nach ein paar Tagen stundenweise Zustände von emotionaler Abgestumpftheit und innerer Lähmung. Ich war sehr müde. Vor allem morgens. Ich nahm es ja zunächst morgens ein. Ich fühlte mich „wie ein Zombie“, nur noch mechanisch reagierend. Wie „aufgezogen“. Nach zwei bis drei Wochen kamen zu den bleiernen Zuständen außerdem üble, massive innere Unruhezustände hinzu, ich fühlte mich manchmal zeitweilig innerlich, als würde ich gleich platzen. Nach ca. sechs bis acht Wochen trat noch eine Gereiztheit hinzu, eine aggressive Unausgeglichenheit, die sich mit der Gabe von Estradot-Pflaster etwas abmilderte. Schließlich mündete das Ganze (trotz Estradot-Pflaster) in eine waschechte depressive Episode. Nach 5 Monaten stiegen Leberenzyme an (Transaminasen, Gamma-GT). Als sich nach sechs Monaten immer noch keine Besserung der Depression abzeichnete, habe ich Androcur sofort abgesetzt. Nach ca. 2 Wochen verschwand die Gereiztheit, nach weiteren vier Wochen begann sich die Stimmung aufzuhellen, ich wurde innerlich munterer, wurde wieder wach, ruhig und ausgeglichen. Es begann, aufwärts zu gehen.
Positive HRT
Die Leistungsfähigkeit hatte unter Östradiol zugenommen, nach der Umstellung auf Neofollin potenzierte sich das. Der Schlaf ist tiefer und erholsamer geworden, ich brauche weniger Schlaf.
Mein Gesicht wurde im Laufe der Zeit etwas lieblicher und etwas harmonischer. Natürlich verändert Estradiol weder den Schädelknochen noch wirklich die Gesichtsweichteile. Die bleiben penetrant männlich. Und die Haut wurde viel glatter, die Haare dünner, aber nicht weniger. Die Brüste wuchsen etwas, aber schrecklich unsymmetrisch. Suporn meinte, die Asymmetrie sei so extrem, dass er nicht wisse, ob er den Brustaufbau schafft. Er hat es geschafft. Er hat aus den zwei unförmigen, völlig unsymmetrischen Mini-Fett-Bindegewebsknödeln wirklich zwei weiblich anmutende und gefühlsechte Brüste aufbauen können.
Nein, es war wohltuend, was mit dem Geschlechtskörper geschah, aber es war lediglich eine Art von Vorspiel zur operativen Geschlechtsangleichung. Ein wichtiges Anfangsstadium, das Schrittmacherfunktion hatte.
Vor allem die seelische Umstellung war bemerkenswert. Die weiche Welle, die mich umspült hat. Also weder das Passing noch das Spiegelbild waren wichtig. Eher die leiblichen Empfindungen.
FAZIT
HRT ist wesentliche Vorstufe, kann aber zumindest bei mir OPs und ein Stimmtraining nicht ersetzen.